Die bleiche Stadt

Bevor ich Lily traf, lebte ich in der Nacht. Das war ein halbes Jahr nachdem meine ganze großartige Hochzeit ins Wasser gefallen war, und ein paar Monate nachdem ich meinen College-Abschluß gemacht hatte, in die Stadt kam, und nachts als Fotografengehilfin zu arbeiten begann.

Der Fotograf war überzeugt, daß die Models entspannter wären, wenn noch ein Mädchen im Studio war, und williger, zu tun, was er von ihnen verlangte, wenn wir nach Mitternacht fotografierten. Aber die meisten waren in ziemlich verzweifelter Lage und hätten es zu jeder Tageszeit gemacht.

Die ganze Situation war voller schäbiger Leute in schäbigen Verhältnissen, und ich fühlte mich auch ziemlich schäbig, war also vielleicht am rechten Ort. Die meisten Models gaben nicht einmal vor, Schauspielerinnen zu sein; sie waren alle Nutten oder zukünftige Nutten. Sie kamen ins Studio, immer zu spät, in einer Wolke von Billigparfüm, unterschrieben den Vertrag mit falschem Namen, und zogen sich aus. Wir fingen immer mit den harmloseren Aufnahmen an, für die Titelblätter. Model mit Weihnachtsmannpuppe für die Dezemberausgabe, Model mit halb aufgeblasenem Strandballon im Juli. Dann, während ich die Reflektoren und den Radiosender einstellte, ging es weiter mit den Aufnahmen, an die ich mich nie gewöhnen konnte. Ich sah meist an die Wand oder auf den Boden, während ich den gräßlichen falschen Komplimenten zuhörte, die die Mädels bei Laune hielten.

Es war ein merkwürdiges verkehrtes Leben - Nächte voll gespenstischer Geschäftigkeit in der stillen Stadt, und leere Tage, die ich verschlief. Ich rief niemals jemanden an, und niemand wußte, wo ich war. Wenn ich nicht schlafen konnte, lag ich im Bett und entwarf fiktive Briefe an alle, die ich haßte. An meine Eltern, weil sie solch eine blödsinnige Hochzeit geplant hatten, an meinen Freund, weil er mich verlassen hatte, an alle, die uns je zusammen gesehen und geglaubt hatten, daß wir uns liebten. Oder ich stand auf und ging unter die Dusche, wo ich jedesmal zu heulen anfing; dann drehte ich das Wasser zu und hockte schluchzend in der Ecke, bis ich irgendwann zu mir kam und mich nackt auf den Kacheln sitzend fand, mein Haar in Strähnen getrocknet.

So lange Zeit war, wenn ich jemanden brauchte, der mich in den Arm nahm, niemand da.

Übersetzung bei Jorn Drappa
Englische Lesart: Library of Congress Copyright TXU527095